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Finanzmärkte & Zukunftstrends

01.07.2024

Handelsfinanzierungen: Eine attraktive neue Anlageklasse für die Gothaer (und andere Versicherungen)

Von: Dr. Klaus-Michael Menz

Handelsfinanzierung ist der Sammelbegriff für eine Vielzahl von unterschiedlichen Finanzinstrumenten, einschließlich Bargeld, Krediten, Investitionen und anderen Vermögenswerten, die zur Realisierung und Erleichterung des nationalen wie internationalen Handels verwendet werden können 1. Die Handelsfinanzierung spielt eine sehr wichtige Rolle im globalen Wirtschafts- und Handelssystem, indem sie Unternehmen unter anderem dabei unterstützt, ihre Handelsaktivitäten zu finanzieren, ihre Liquidität zu sichern und das Risiko von Zahlungsausfällen zu minimieren.

Dass Trade Finance, wie der Sammelbegriff für Handelsfinanzierungen im internationalen Sprachgebrauch genannt wird, sprichwörtlich das Rückgrat des weltweiten Handels repräsentiert, kann man den Statistiken entnehmen: Dementsprechend machten beispielsweise Handelskredite in einer internationalen Analyse von über 3500 Unternehmen in 34 Ländern von 1990 bis 2011 durchschnittlich rund 25 % der gesamten Fremdverbindlichkeiten eines Unternehmens aus. 2

Auch wenn es intuitiv nachvollziehbar ist, daß Unternehmen, sofern die interne Finanzmittelgenerierung (betrieblicher Cash Flow) zur Finanzierung ihrer Handelstransaktionen nicht ausreichen sollte, auf externe Ressourcen zugreifen müssen, so bewegt die wissenschaftliche Forschung schon seit mehr als einem halben Jahrhundert die Frage, warum Unternehmen sich so oft für externe Handelskredite und nicht viel mehr auf die Finanzierung durch Banken stützen. Denn gemäß der sogenannten Pecking Order-Theorie (Donaldson, 1961; Myers und Majluf, 1984) steigen die Kosten einer Finanzierung mit dem Grad der Informationsasymmetrie zwischen dem Unternehmen und den externen Geldgebern sowie dem Risikogehalt der Finanzierungsart an.3 Tatsächlich können sich nach einigen Schätzungen die Finanzierungskosten für Handelskredite sehr hoch sein und in manchen Fällen bis zu 40% per annum betragen.4 Bankenfinanzierungen dürften daher in der Regel deutlich günstiger sein. Denn Banken sind gewissermaßen Spezialisten im Abbau von Informationsasymmetrien, da eine ihrer Hauptfunktionen in der Bonitätsbewertung von natürlichen und juristischen Personen besteht und sie damit Experten für private Ratings sind. In vielen Fällen fungieren sich auch als Hausbank für die Unternehmen und können so die Bonität sehr intensiv auch über die Zeit verfolgen. Mehr anzeigen

Warum dennoch so viele Unternehmen auf Handelskredite setzen, scheint sehr vielschichtige Gründe zu haben. Eine wichtige Ursache ist in der unstetigen Verfügbarkeit von Bankenfinanzierungen zu finden. Banken schränken ihr Kreditangebot in bestimmtem Phasen des Konjunkturzyklus deutlich ein (zum Beispiel in Abschwungphasen und Rezessionen), und in Krisenperioden kann es gar zu massiven Angebotsrationierungen kommen. Daher dürften die Unternehmen ihre Refinanzierungsquellen diversifizieren wollen, um auch in schwierigen Wirtschaftsphasen ihre Handelsaktivitäten finanzieren zu können und ihre Lieferketten aufrechterhalten zu können. Eine Begründung, warum Firmen auch in Zeiten reichlich vorhandenen Finanzierungsangebots von Banken dennoch zu Handelskrediten greifen, scheint aber in der allgemeinen Natur der Geschäftsbeziehung zwischen Abnehmer und Lieferanten zu liegen. So kennen die meisten Lieferanten ihre Kunden und deren Wirtschaftslage durch oftmals langjährige Erfahrungen sehr gut und besitzen damit spezifische Informationsvorteile (laufendes Monitoring der wiederholten Transaktionen, besondere Produktkenntnisse, etc.) gegenüber anderen externen Finanzgebern. Daher könnten in vielen Handelsbeziehungen die Informationsasymmetrien ähnlich hoch oder sogar geringer sein als in einer Bank-Kunde-Relation. Die Kosten eines Handelskredits müssen demnach nicht grundsätzlich höher sein als bei einer Bankfinanzierung.5

Nach der allgemeinen Beleuchtung der theoretischen und empirischen Bedeutung und Hintergründen der Handelsfinanzierung, soll im Folgenden ein Überblick über Trade Finance als Anlageklasse für Investoren gegeben werden.6

Grundsätzlich entsteht bei jeder Handelstransaktion, bei der ein Unternehmen seine gekaufte Ware nicht sofort in bar an den Lieferanten bezahlt, ein Handelskredit. Beim Abnehmer entsteht beim Kauf auf Rechnung mit mehr oder minder langen Zahlungsziel ökonomisch eine Handelsverbindlichkeit (Trade Payables), während bei Verkäufer spiegelbildlich eine Handelsforderung (Trade Receivables) entsteht. Da neben dem Kreditrisiko (möglicher Zahlungsausfall) für den Verkäufer vor allem auch Opportunitätskosten in Form ausbleibender Liquidität durch den gewährten Handelskredit resultieren, verkaufen Lieferanten häufig ihre Forderungen an einen externen Finanzier, der ihnen den Rechnungsbetrag unmittelbar auszahlt oder überweist. Bei diesem sogenannten Factoring überträgt der Lieferant auch das Risiko von Zahlungsausfällen an den Factor (Käufer der Forderung). Der Factor ist nun dafür verantwortlich, die Forderungen vom Warenkäufer einzuziehen. Während beim Factoring die Initiative für die Finanztransaktion meist vom Verkäufer ausgeht, wird beim sogenannten Reverse Factoring in der Regel der Abnehmer initiativ. Dabei verkauft dieser seine Verbindlichkeiten gegenüber dem Lieferanten an einen Finanzier/Investor, der die sofortige Begleichung der Rechnung übernimmt.

Durch das Reverse Factoring, für die auch die Begriffe Supply-Chain-Finance oder Lieferantenfinanzierung gebräuchlich sind, entstehen für alle Beteiligten gewisse Vorteile:7 Der Warenabnehmer kann durch Reverse Factoring oft besonders gute Preise und Rabatte für die Produkte aushandeln. Durch das Abtreten der Verbindlichkeiten an den Finanzier und die schnelle Bezahlung durch ihn werden mögliche Skonti optimal ausgenutzt. Gleichzeitig profitiert der Abnehmer selbst von längeren und individuell festgelegten Zahlungszielen zwischen ihm und dem Finanzierungspartner. Vorteilhaft sowohl für den Käufer als auch für den Lieferanten ist, dass der Lieferant durch die zuverlässige und schnelle Bezahlung stets weiter produzieren und liefern kann. Auch die frühzeitige Bezahlung der Verbindlichkeiten selbst ist ein nicht zu unterschätzender, wesentlicher Vorteil und hilft die Stabilität der Lieferkette zu sichern.

Früher war die Finanzierung von Handelsforderungen neben Banken vor allem spezialisierten Finanzdienstleistern wie Factoring-Unternehmen und Leasing-Gesellschaften vorbehalten. Im Zuge des gewachsenen Welthandels hat sich in den letzten Jahren aber vermehrt auch die Chance für institutionelle Investoren eröffnet, in diese für sie neue Anlageklasse zu investieren. Investitionen in Handelsforderungen bieten dem Anleger ein sehr attraktives Rendite-Risiko-Profil. Die Laufzeit der zugrundeliegenden Forderungen beträgt in der Regel nur zwischen 30 bis 180 Tagen, kann aber in Einzelfällen auch länger sein. Die erzielbaren Renditen hängen neben der Laufzeit vor allem vom Kreditrisiko des Forderungsschuldners ab. Allerdings ist die historische Ausfallrate von kurzfristigen Handelsfinanzierungen grundsätzlich sehr gering. So fielen gemäß der International Chamber of Commerce (ICC) beispielsweise während der globalen Finanzkrise 2008-2009 unter insgesamt 2,8 Mio. Handels-Transaktionen lediglich 445 Instrumente aus.8 Zum Vergleich: Die von der Ratingagentur Moody’s berechnete Ausfallrate für Unternehmensanleihen erreichte im gleichen Zeitraum einen Wert von fast 13% weltweit. Um das Ausfallrisiko weiter zu reduzieren, kann der Investor zusätzlich eine Kreditausfallversicherung der großen Kreditversicherungen (zum Beispiel Atradius, Coface, Euler Hermes, etc.) abschließen. Auch wenn in dem letzten Falle für den Investor kaum noch ein nennenswertes Ausfallrisiko besteht, kann man von möglichen Anlagerenditen in Höhe vom jeweiligen Dreimonatsgeldsatz plus einem Aufschlag von 100 bis 200 Basispunkten ausgehen, wobei der Aufschlag vor allem eine Prämie für die höhere Komplexität dieser Anlageklasse repräsentiert. Allerdings ist auch zu berücksichtigen, daß es sich bei Handelsforderungen um nicht-börsennotierte Instrumente handelt, die nicht jederzeit verkauft werden können. Auch wenn die Forderungen eine sehr kurze Duration aufweisen, dürfte der Renditeaufschlag also auch eine gewisse Illiquiditätsprämie beinhalten.

Diese attraktiven Eigenschaften haben auch die Gothaer Asset Management bereits vor etlichen Jahren bewogen, für ihre Kunden in diese neuartige Anlageklasse zu investieren. Allerdings war der Weg von der Theorie in die (Anlage-)Praxis mit einigen Hürden versehen. Da die Handelsforderungen in der Praxis i.d.R. über einfache Verbriefungsplattformen emittiert werden, sind sie zum Beispiel ohne ein externes Rating aufgrund regulatorischer Vorgaben nur von Solvency II-Unternehmen zu erwerben. Zudem gab es damals nur wenige spezialisierte Asset Manager, die diese Anlageklasse auch deutschen Investoren im Spezialfonds-Mandaten zugänglich machten. Aber aus heutiger Sicht hat sich der Hürdenlauf gelohnt.

Bewertung und Ausblick

Handelsforderungen stellen eine attraktive Anlageklasse für institutionelle Investoren dar. Auch wenn die Trade Receivables in der Regel kein externes Kredit-Rating erhalten, besitzen sie auch für Versicherungen ein attraktives Rendite-Risiko-Profil (höhere Risikoprämie als bei Investment Grade-Unternehmensanleihen, sehr niedrige SCR-Belastung und äußerst niedriges Ausfallrisiko). Die kurze Duration sollte auch für Personenversicherer kein Malus per se darstellen, da eine adäquate Zinsduration über ein Receiver Swaps Overlay realisiert werden kann.

Leider droht dem Geschäft mit kurzfristigen Handelsforderungen in der Europäischen Union durch regulatorische Veränderungen zukünftig signifikante Einschränkungen. Die Europäische Kommission hat nämlich im September 2023 einen Entwurf einer neuen EU-Verordnung zur Bekämpfung des Zahlungsverzugs im Geschäftsverkehr vorgelegt. Durch die neue Verordnung soll die Zahlungsverzugsrichtlinie 2011/7/EU aus dem Jahr 2011 ersetzt werden und damit eine Reduzierung des allgemeinen Zahlungsziels auf maximal 30 Tage eingeführt werden. Die geplante Reduzierung des Zahlungsziels im Geschäftsverkehr auf 30 Tage durch die EU-Zahlungsverzugsverordnung kann zu massiven Herausforderungen für alle Unternehmen führen, insbesondere für solche, die bisher deutlich längere Zahlungsfristen praktiziert haben. Dies könnte zu Liquiditätsengpässen und Finanzierungs-schwierigkeiten führen, insbesondere, wenn Unternehmen darauf angewiesen waren, Zahlungen erst nach einem längeren Zeitraum zu leisten. Diese Änderung könnte sich auch auf verschiedene Geschäftsmodelle und Finanzierungsinstrumente auswirken, einschließlich des Factorings und Reverse Factorings. Denn auch individuelle Vereinbarungen über die 30 Tage hinausgehende Zahlungsziele sollen dann im Anwendungsbereich der EU-Zahlungsverzugsverordnung nicht mehr möglich sein.9 Im Falle der tatsächlichen Implementierung ist zu erwarten, daß die Marktteilnehmer im Rahmen ihrer organisatorischen Möglichkeiten versuchen werden, Transaktionen in andere Jurisdiktionen zu verlagern. Allerdings dürfte das gerade für viele kleinere und mittelständische Unternehmen sehr schwierig werden. Da aber nahezu alle großen Wirtschafts- und Handelsverbände kollektiv gegen den Verordnungsentwurf als unverhältnismäßigen Eingriff die Vertragsfreiheit Sturm laufen10, steht zu hoffen, daß die EU-Kommission den Entwurf abmildern wird.

Literatur

1 Vgl. Deutsches Factoring-Portal, 2023, Was ist eine Handelsfinanzierung? https://deutschesfactoringportal.de/handelsfinanzierung/

2 Vgl. Ross Levine, Chen Lin, and Wensi Xie, 2016, Corporate Resilience to Banking Crises: The Roles of Trust and Trade Credit, NBER Working Paper No. 22153, April 2016.

3 Vgl. Donaldson, G., 1961, Corporate debt capacity; a study of corporate debt policy and the determination of corporate debt capacity, Graduate School of Business Administration, Harvard University; Stewart C. Myers, Nicholas S. Majluf, 1984, Corporate financing and investment decisions when firms have information that investors do not have. Journal of Financial Economics. Band 13, Nr. 2, S. 187–221.

4 Vgl. Chen, S., Ma, H., and Wu, Q., 2019, Bank credit and trade credit: Evidence from natural experiments. Journal of Banking & Finance, 108 (November), 105616.

5 Vgl. Marotta, G., 2005, When do Trade Credit Discounts Matter? Evidence from Italian Firm-level Data, Applied Economics, 37(4), S. 403–416.

6 Akkreditive, Dokumenteninkassi und Dokumentenakkreditive sind seit langem bewährte Instrumente in der Handelsfinanzierung. Eine Bewertung dieser traditionellen Methoden zeigt, daß sie trotz ihrer historischen Bedeutung auch aktuell eine wichtige Rolle spielen. Da sie aber vor allem von Banken offeriert werden, soll in diesem Beitrag nicht weiter auf diese Instrumente eingegangen werden.

7 Vgl. dazu https://www.abcfinance.de/glossar/factoring/reverse-factoring/.

8 Vgl. International Chamber of Commerce (ICC), 2010, Report on findings of ICC-ADB Register on Trade & Finance, Statistical analysis of risk profile of trade finance products, Paris.

9 Vgl. Stumpf, W., 2023, Geplante Verzugsverordnung beschränkt geübte Zahlungspraktiken, Börsen-Zeitung, 11.11.2023.

10 Vgl. zum Beispiel Handelsverband Deutschland, Stellungnahme zu dem Vorschlag der EU-Kommission für eine Verordnung zur Bekämpfung von Zahlungsverzug im Geschäftsverkehr, Stand: 20. Oktober 2023.

01.12.2023

Geschichte wiederholt sich - hoffentlich nicht!

Von: Marius Gero Daheim

Angesichts der seit 2022 stark gestiegenen europäischen Anleiherenditen kommen zum ersten Mal seit der Europäischen Staatsschuldenkrise wieder Zweifel an der Tragfähigkeit der öffentlichen Verschuldung auf. Im Fokus steht dabei Italien mit seiner Schuldenquote von 142% des BIP – der zweithöchsten im Euroraum – und den schwächsten Bonitätsnoten unter den fünf größten Euro-Mitgliedstaaten. Droht eine Neuauflage der europäischen Staatsschuldenkrise?

Euro-denominierte Staatsanleihen und Anleihen staatsnaher Emittenten (SSA) sind ein wichtiger Bestandteil des Liquiditätsportfolios der Gothaer Asset Management. Die Risikoprämien dieser Zinsinstrumente werden fundamental durch die Kreditqualität (letztlich also die Schuldentragfähigkeit) der emittierenden bzw. garantierenden Staaten bestimmt. Politische und/oder wirtschaftliche Veränderungen, die kurz- oder mittelfristig, positiv oder negativ die Kreditqualität beeinflussen, sind daher zentral für die Beurteilung der relativen Attraktivität dieser Zinsinstrumente. Sie stellen - neben Marktfaktoren wie der Liquidität - den zentralen Parameter unserer taktischen Anlageentscheidungen dar. Die strategischen Perspektive auf das Anlageuniversum wird außerdem flankiert durch harte Obergrenzen für die Anteile von Zinsinstrumenten der ehemaligen Krisenländer Italien (max. 5%), Spanien und Portugal (zusammen max. 7,5%) an unseren gesamten Kapitalanlagen.

Den gesamten Artikel lesen Sie hier.

02.01.2023

Was bedeutet Behavioral Finance und wozu wird sie in der Gothaer Asset Management eingesetzt?

Von: Dr. Klaus-Michael Menz

Behavioral Finance, oder verhaltensorientierte Finanzmarktforschung, wie man im deutschen Sprachraum sagen würde, ist ein interdisziplinäres Fachgebiet zwischen Wirtschaftswissenschaften, Psychologie und Soziologie, das sich mit der Erforschung der menschlichen Verhaltensweisen im Zusammenhang mit finanziellen Entscheidungen und dem Anlageverhalten auf den Finanz- und Kapitalmärkten befasst. Im Gegensatz zur traditionellen, neoklassischen Finanztheorie, die davon ausgeht, dass Menschen rational handeln und ihre Entscheidungen aufgrund von vollem Wissen und klaren, stabilen Präferenzen treffen und damit dem Leitbild des nutzenmaximierenden „Homo oeconomicus“ entsprechen, geht die Behavioral Finance davon aus, dass menschliches Verhalten durch Emotionen, Vorurteile und andere psychologische Faktoren beeinflusst wird, die das Denken und Verhalten beeinträchtigen können.

Natürlich stellt sich nun die Frage, welchen praktischen Wert diese Erkenntnisse für den Anleger und die Anlagepolitik an den Finanz- und Kapitalmärkten haben. Tatsächlich herrschte spätestens seit der bahnbrechenden Arbeit von Fama (1970) die Vorstellung vor, dass Finanzmärkte jederzeit effizient sind und alle bewertungsrelevanten Informationen sofort, vollständig und „richtig“ in den Wertpapierkursen Niederschlag finden. Eine Implikation davon wäre, dass Wertpapierkurse nicht prognostizierbar wären und Kursverläufe mehr oder minder zufällig wären. Wenn aber Kursentwicklungen zufällig wären, dann würde sich zum Beispiel auch keine fundamentale Analyse von Aktienunternehmen mehr lohnen. Würde aber kaum noch ein Anleger mehr intensive Unternehmens- und Bilanzanalyse betreiben, wäre auch nicht mehr sichergestellt, dass sich die Wertpapierkurse effizient entwickeln. Das Konzept effizienter Märkte wirkt nicht widerspruchsfrei.

Die verhaltensorientierte Finanzmarktforschung hat mit ihren vielen Beiträgen dazu beigetragen, sogenannte "Finanzmarkt-Anomalien" zu identifizieren, die sich als Abweichungen von den Annahmen der klassischen, rationalen Finanztheorie einstufen lassen und somit die Gültigkeit der Effizienzmarkthypothese erheblich in Frage stellen (siehe Überblick bei Shleifer, 2000). So hat unter anderem Nobelpreisträger Robert Shiller nachgewiesen, dass sich Aktienkurse tatsächlich stärker bewegen, als es fundamentale, rationale Bewertungseinflüsse erwarten lassen. Fisher Black (1986) prägte den Begriff des "Noise"-Tradings, also des Wertpapierhandels von Anlegern ohne fundamentale Auslöser. Ein anderes Finanzmarktphänomen ist die sogenannte Überreaktion (im Englischen bekannt als „Overreaction“). Hinter dem Effekt verbirgt sich eine langfristig erzielbare Über- oder Unterrendite mit Aktienportfolios oder einzelnen Wertpapieren, die sich in der Historie unter- oder überdurchschnittlich entwickelt haben. Auch diese Beobachtungen widersprechen der These vom effizienten Markt, denn historische Informationen dürften sich demnach nicht für profitable Investmentstrategien in der Zukunft ausnutzen lassen. Ein ähnlich gelagerter Effekt ist die Unterreaktion (auf historische Informationen), die auch als Momentum-Anomalie bekannt ist. Diese empirische Beobachtung beschreibt einen mittelfristig anhaltenden Performancetrend, der eine positive Autokorrelation der Renditen und damit eine Prognostizierbarkeit von Kursentwicklungen impliziert. Dieses Kapitalmarkt-Phänomen wurde im Zusammenhang mit unterschiedlichen Ereignissen dokumentiert: unter anderen nach höheren und niedrigen Dividenden- und Gewinnankündigungen, nach Ankündigen von Aktien-Splits, nach Aktienrückkaufen und nach Firmenabspaltungen (siehe Hirshleifer, 2001). Der sogenannte „Size“-Effekt tritt hingegen auf, wenn kleine Aktien-Unternehmen mit geringer Marktkapitalisierung risikoadjustierte Überrenditen erzielen, die nicht mit anderen fundamentalen Faktoren erklärt werden können als durch ihre Größe. Diese Anomalie wurde bereits erstmals im Jahre 1981 durch Banz dokumentiert.

Neben den genannten Finanzmarkt-Anomalien hat die verhaltensorientierte Kapitalmarktforschung noch viele weitere Auffälligkeiten dokumentiert, u.a. zu wiederkehrenden, prognostizierbaren saisonalen Rendite-Mustern (z.B. Januar-Effekt, Wochenend-Effekt). Darüber hinaus liefert sie zu den empirischen Belegen auch theoretische Erklärungen für diese Anomalien. Eines der wichtigsten Konzepte der Behavioral Finance ist dabei das Konzept der kognitiven Verzerrungen („behavioral biases“) oder auch systematische Urteilsfehler, die das menschliche Verhalten im Zusammenhang mit finanziellen Entscheidungen beeinflussen. Diese kognitiven Verzerrungen und Heuristiken können sich auf verschiedene Aspekte des Denkens und Verhaltens auswirken, einschließlich der Art und Weise, wie Menschen Informationen verarbeiten, ihre Risikobereitschaft einschätzen und ihre finanziellen Ziele setzen.

Einige Beispiele für psychologische Verzerrungen und Heuristiken, die in der Behavioral Finance aufgedeckt und untersucht werden, sind:

  • Anchoring: Die sogenannte Verankerungsheuristik tritt auf, wenn Menschen sich an einem ersten Eindruck oder einem völlig beliebigen Ausgangswert orientieren und ihre weitere Einschätzung danach ausrichten, anstatt sich auf alle relevanten Informationen zu stützen.
  • Verlustaversion: Diese kognitive Verzerrung tritt auf, wenn Menschen es eher vermeiden, Verluste zu realisieren, was dazu führen kann, dass sie risikoaverse Entscheidungen treffen. Kleine Gewinne (und kleinste Verluste) werden realisiert, während (große) Verluste hingegen „laufengelassen“ werden.*
  • Hindsight Bias: Der systematische Rückschaufehler besagt, dass im Nachhinein historische Entwicklungen als so plausibel empfunden werden, als ob man sie hätte vorhersehen können. Was man aber in der Regel nicht hat. Das stärkt das Selbstbewusstsein, führt aber zur falschen Reflektion getroffener Anlageentscheidungen.

In der Gothaer Asset Management fließen die neuen Erkenntnisse der Behavioral Finance-Forschung in den Investmentprozess ein, wobei prozessuale und organisatorische Maßnahmen implementiert wurden, um negative Effekte durch kognitive Verzerrungen und systematische Urteilsfehler auf die Anlageperformance zu mitigieren oder zu verhindern:

Dem Anchoring wird entgegengewirkt, indem im Anlageprozess der Gothaer alternative Einschätzungen berücksichtigt werden und bei Prognosen möglichst andere Vorhersagen zunächst ignoriert werden, um das eigene Urteil nicht „zu verankern“. Zudem werden möglichst „harte“, fundamentale Bewertungsmodelle eingesetzt, statt nur auf „weiches“ Sentiment zu setzen. Gegen das Problem der Verlustaversion helfen im Portfolio-Management liquider Wertpapiere konsequente Anlagedisziplin über die Festsetzung vordefinierter Kursziele und die Definition von Risikobudgets, die bei Erreichen automatisch eine Handlung auslösen. Auch die Implementierung eines Limitsystems wirkt dieser Problematik teilweise entgegen. Der systematische Rückschaufehler oder Hindsight Bias führt dazu, dass eigene Anlageurteile falsch reflektiert sowie Prognose- bzw. Entscheidungsfehler wiederholt werden. In der Portfolio-Management-Praxis werden daher Dokumentationen der wesentlichen Entscheidungen und Prognosen angefertigt und intern abgelegt: Die nachträgliche Analyse von Zeitpunkt der Entscheidung, des jeweiligen Datenkranzes und der historischen Interpretation erlauben eine Fehleranalyse und Lerneffekte für zukünftige Entscheidungen.

Die Behavioral Finance bietet auch Einsichten in die Art und Weise, wie Gruppendynamik und soziale Einflüsse das finanzielle Verhalten von Individuen beeinflussen können. Zum Beispiel wurde eine Herdenmentalität nachgewiesen, wonach Anleger dazu neigen, die gleichen Investment-Entscheidungen zu treffen, die andere Investoren bereits vor ihnen getroffen haben. Gerade Entscheidungen von Gruppen sind oft noch in stärkerem Maße von psychologischen und sozialen Verzerrungen tangiert als bei Einzelpersonen. Daher werden in bestimmten Investmentprozessen der Gothaer Asset Management geheime Abstimmungen und Prognosen abgegeben, die dann von einem Moderator aggregiert werden. Idealerweise wird ein „Teufels Advokat“ eingesetzt, der die jeweiligen Urteile individuell mit Pro und Contra vorstellt und kritisch hinterfragt. Damit wird verhindert, dass Einzelne die Gruppenentscheidungen dominieren und andere sich erst gar nicht zu Wort melden.

Insgesamt hat die Behavioral Finance dazu beigetragen, das Verständnis der menschlichen Entscheidungsfindung auf den Finanzmärkten zu verbessern und hat zu einer Reihe von praktischen Anwendungen geführt, wie zum Beispiel der Entwicklung von Anlagestrategien, die auf die Verzerrungen von Investoren reagieren, oder der Verbesserung von Finanzdienstleistungen, indem man auf die spezifischen Bedürfnisse und Vorlieben von Kunden eingeht sowie der Optimierung bei der prozessual-organisatorischen Strukturierung von Investmententscheidungen, wie oben für die Gothaer Asset Management beschrieben.

Die Behavioral Finance ist jedoch auch Gegenstand von Kritik gewesen, da einige der Ergebnisse der Forschung als widersprüchlich oder schwer zu replizieren angesehen werden. Zudem gibt es auch die Frage, ob die Behavioral Finance tatsächlich in der Lage ist, die komplexen Dynamiken von Finanzmärkten vollständig zu erklären. In der Gothaer verfolgen wir daher auch weiterhin neuere wissenschaftliche Erkenntnisse, die uns helfen, das zunehmend komplexere Marktumfeld im Interesse unserer Anleger besser verstehen und managen zu können.

*Die bahnbrechende „Prospect Theory“ der beiden Psychologen Kahnemann und Tversky (1979), die diese Erkenntnisse produzierte, gilt als realistischere Erwartungsnutzentheorie als die traditionell-neoklassische mit der heroischen Annahme des perfekten Homo oeconomicus. Kahnemann erhielt für seine Forschungen 2002 den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften. Tversky verstarb bereits 1996.

Literatur:

Banz, R., (1981), The Relationship Between Return and Market Value of Common Stock, Journal of Financial Economics 9, S. 3-18.

Black, F. (1986), Noise, in: The Journal of Finance, 41, S. 529-543

Fama, E. (1970): Efficient Capital Markets. A Review of Theory and Empirical Work, In: The Journal of Finance. 25, S. 383–417;

Hirshleifer, D., 2001, Investor Psychology and Asset Pricing, Journal of Finance 56, S. 1533-1597.

Kahneman, D. und A. Tversky, 1979, Prospect Theory: An Analysis of Decision under Risk, Econometrica 47, S. 263-291.

Shleifer, A., (2000), Inefficient Markets, Oxford University Press: Oxford.1

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Makroökonomischer Ausblick

September 2025

Transatlantische Geldpolitik: Die Fed liefert, die EZB wartet ab

Von: Marius Gero Daheim

Auch im September wurde die Rentenmarkt-Entwicklung in den USA und im Euroraum durch die US-Konjunktur und den Politikwechsel unter Trump dominiert. Dabei fielen die berichteten US-Inflations- und Arbeitsmarktdaten zwar nicht dramatisch schlecht aus, bestätigten jedoch die zwei zentralen Trends - Arbeitsmarktabkühlung und Inflationsbeschleunigung. Folgerichtig beschloss die Fed nach neun Monaten erstmals wieder eine Leitzinssenkung. Die fiel mit 25 Bp aber moderat aus und wurde von Fed Chef Powell als „Risikomanagement“-Maßnahme deklariert. Für ihre verbleibenden zwei Sitzungen im Jahr 2025 projiziert die Fed nun jeweils eine 25 Bp-Senkung - ein Schritt mehr als in der Juni-Projektion. Für den Zeitraum 2026-28 wurden keine Änderungen am zuvor projizierten Leitzins-Pfad vorgenommen, was als klare Absage an die extremen Zinssenkungsforderungen von Donald Trump zu werten ist. Mit Ablauf von Powells Amtszeit im Mai 2026 werden im FOMC von Trump nominierte Mitglieder eine Mehrheit halten. Bereits im Juni könnte die Fed daher, den Vorstellungen des US-Präsidenten folgend, eine „große“ Leitzinssenkung beschließen. Dennoch dürfte das FOMC die US-Inflationsentwicklung nicht völlig ausblenden. Ungewiss ist, ob die von der US-Zollpolitik ausgelösten Inflationswirkungen bis dahin bereits abgeebbt sein werden. Denn wie im Euroraum ist der Inflationsdruck in den USA zurzeit wesentlich getrieben durch den starken Anstieg der Lohnkosten. Dieser droht sich zu verfestigen, falls das US-Arbeitsangebot als Folge von Demografie, Fachkräftemangel und restriktiver Migrationspolitik im gleichen Tempo abnimmt wie die Arbeitskräftenachfrage.

Im Euroraum beließ die EZB zum dritten Mal in Folge die Leizinsen unverändert und fand sich in dieser abwartenden Haltung zuletzt bestätigt durch die leichte Beschleunigung der Euroraum-Teuerung auf 2,2%. Sowohl bei der Inflation als auch beim Wirtschaftswachstum sind die Risiken aber abwärtsgerichtet und vielfältig: Exporteinbußen im US-Handel, Importkonkurrenz v.a. durch chinesische Produkte, Arbeitsplatzabbau v.a. in der Industrie, ausbleibende Reformen und steigende Zinslasten der öffentlichen Haushalte. Eine weitere geldpolitische Lockerung ist daher nicht auszuschließen – auch wenn der Markt sie zurzeit nicht einpreist.

Hinweis: Diese Publikation dient ausschließlich der Information und beinhaltet keine Handlungsempfehlung. Die enthaltenen Aussagen stellen die aktuelle Ansicht der geschilderten Umstände sowie unverbindliche Analysen und Prognosen der BarmeniaGothaer Asset Management AG zu gegenwärtigen und zukünftigen Marktverhältnissen dar, die ohne vorherige Ankündigung geändert werden können. Wertentwicklungen der Vergangenheit und Prognosen sind keine verlässlichen Indikatoren für zukünftige Wertentwicklungen. Trotz sorgfältiger Auswahl der Quellen und Prüfung der Inhalte übernimmt die BarmeniaGothaer Asset Management AG keine Haftung oder Garantie für die Aktualität, Richtigkeit und Vollständigkeit der in dieser Publikation gemachten Informationen.

August 2025

Trumps Griff nach der Fed: Schlussakt des amerikanischen Jahrhunderts?

Die Hoffnung währte nur kurz. Der Anfang August in Schottland geschlossene zollpolitische „Deal“ der EU mit den USA wurde trotz aller europäischen Kritik als Ende der handelspolitischen Ungewissheit begrüßt. Schon drei Wochen später verhängten die USA aber einen neuen 50%-Zoll auf Produkte mit Stahl- oder Aluminiumgehalt. Der zuvor vereinbarte 15%-Zoll wurde damit für viele europäische Unternehmen obsolet. Der 50%-Zoll stellt nach Aussage des Branchenverbandes VDMA für viele angeschlossene Unternehmen eine existenzielle Bedrohung dar. Zu Monatsende wurde dann mit der Verdoppelung der US-Zölle auf indische Produkte als Strafe für Indiens Käufe russischen Erdöls einmal mehr offensichtlich, dass die US-Zollpolitik nicht dem Ziel eines „fairen“ Handels dient, sondern eine Universalwaffe zur Erreichung beliebiger außenpolitischer Ziele ist. Die Frage der Legalität der US-Zölle soll nun bis Mitte Oktober vom US-Verfassungsgericht entschieden werden. Ein klares Verdikt gegen Trumps Zölle ist dabei nicht zu erwarten. Stabilität und Berechenbarkeit im Handel mit den USA bleiben also außer Sicht mit entsprechend negativen Folgen für die Weltkonjunktur. Trumps „America First“-Politik mag aus einer Position wirtschaftlicher und militärischer Übermacht kurzfristig erfolgreich erscheinen. Sie dürfte jedoch zum Bumerang werden, sobald eine der beiden Säulen geopolitischer Dominanz erodiert. Die Ratingagentur S&P warnte unlängst, dass angesichts der hohen und steigenden US-Staatsverschuldung funktionierende Institutionen, insbesondere eine unabhängige Notenbank, der Schlüsselfaktor für die Kreditwürdigkeit der USA seien.

Währenddessen ist der US-Geldmarkt nach den schwachen Juli US-Arbeitsmarktdaten und der Jackson Hole-Rede von Fed-Chef Powell überzeugt, dass die Fed bei ihrer Septembersitzung zum ersten Mal nach zwölf Monaten wieder die Leitzinsen senken wird. Angesichts des zuletzt erneut gestiegenen Inflationsdrucks wäre eine solche Entscheidung riskant. Sie könnte als Bestätigung dafür gewertet werden, dass die Fed ihre geldpolitische Unabhängigkeit verloren hat. Höhere Risikoprämien, also steigende US Treasuryrenditen wären zu erwarten.

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Juli 2025

Umkehr der transatlantischen Renditedivergenz im 2. Halbjahr

Von: Marius Gero Daheim

Wie erwartet, haben sowohl EZB als auch Fed bei ihren Juli-Sitzungen die Leitzinsen unverändert gelassen. Beide Entscheidungen spiegeln zum einen die relativ resiliente Konjunkturentwicklung, zum anderen den in den USA leicht erhöhten Inflationsdruck bzw. die im Euroraum erreichte Preisstabilität wider. Allerdings besteht weiterhin sehr hohe Ungewissheit bezüglich der wirtschaftlichen Folgen der US-Zollpolitik. Für den Euroraum sieht die EZB vor allem konjunkturelle Abwärtsrisiken wegen des erstarkten Euros, der US-zollinduzierten Exportabschwächung und der Importkonkurrenz durch asiatische Produkte. Dagegen betont die Fed die Gefahr einer Inflationsbeschleunigung als Folge der US-Importzölle und des schwächeren Dollars. Zuletzt mehrten sich indessen die Anzeichen einer Abkühlung der US-Konjunktur: die BIP-Daten für das erste Halbjahr weisen eine spürbare Verlangsamung gegenüber dem Wachstumstempo des Vorjahres aus. Zudem hat sich der US-Beschäftigungsaufbau seit Mai deutlich verlangsamt. Angesichts der niedrigen Arbeitslosenquote von 4,2% lässt sich der US-Arbeitsmarkt dennoch als robust bezeichnen und die abwartende Haltung der Fed (noch) rechtfertigen - zumal auf der Inflationsseite im Juni die US-Zölle zu Preissteigerungen bei einzelnen Güterkategorien führten. Im Spannungsfeld dieser ambivalenten Datenlage und dem steigenden politischen Druck auf die Fed haben Zinssenkungsspekulationen zugenommen: Bis Jahresende werden nun zwei US-Leitzinssenkungen erwartet. Um diese Einschätzung zu validieren, müsste sich aber die Rethorik der US-Notenbankvertreter in den kommenden Wochen deutlicher in Richtung „dovish“ verschieben. Die Markterwartungen hinsichtlich einer weiteren EZB-Leitzinssenkung bis Jahresende haben sich dagegen abgeschwächt auf eine Wahrscheinlichkeit von nur mehr 60%. Die zehnjährige US-Treasuryrendite handelt derzeit nahe dem unteren Ende ihrer diesjährigen Bandbreite, die zehnjährige Bundrendite dagegen in der Mitte ihrer Bandbreite. Sofern in den kommenden Wochen und Monaten die Wirtschaftsdaten endlich mehr Klarheit über die Wirkungen der US-Handelspolitik auf Inflation (USA: Anstieg; Euroraum: Rückgang) und Wachstum (USA und Euroraum: Verlangsamung) offenbaren, könnte sich die seit Mitte Juni beobachtbare transatlantische Renditedivergenz umkehren bzw. der 10J Transatlantik-Spread sich in Richtung 180 Bp ausweiten.

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